R. Klieber: Jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten

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Titel
Jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie. 1848-1918.


Herausgeber
Klieber, Rupert
Erschienen
Wien 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rebecca Loder, Université de Fribourg (CH)

In Jüdische – christliche – muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie 1848 – 1918 versucht Rupert Klieber ein «gewagtes Unterfangen», wie er selbst schreibt, nämlich eine lebensweltliche und vergleichende Darstellung der Religionen in der Habsburgermonarchie.

An den Anfang stellt er die Problematik zwischen Kirchengeschichte und «profaner» Geschichtswissenschaft. Neue sozial- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen seien zu lange im kirchenhistorischen Feld unbeachtet geblieben. Daher führt er im Kapitel über eine «Kirchliche Sozial- und Religiöse Alltagsgeschichte» aus, was diese neue Perspektive sein kann und was ihre Aufgaben sind. Sein in seinen Worten grössenwahnsinnig erscheinendes Vorhaben erläutert er sehr genau, legt dar, warum seine Studie nur lückenhaft bleiben kann, auf welchen Quellen sie beruht und warum regionale Belege für grössere Gebiete ausreichen müssen.

Rupert Klieber geht auf jede Religionsgruppe separat ein, wobei er «chronologisch» (nach dem Alter bzw. der «historischen Wahrnehmbarkeit als eigenständige Größe», 22) beginnt, d.h. Judentum vor christlicher Orthodoxie vor Katholizismus vor Islam vor Protestantismus. Seitenmässig wird der katholischen Bevölkerung am meisten Platz eingeräumt, vor jüdischer und protestantischer Bevölkerung, danach folgen die christlich Orthodoxen und nur elf Seiten werden den Muslimen in Bosnien gewidmet.

Themen der Ausführungen Kliebers sind etwa die religiöse Bildung für Kinder, die Stellung von Klerikern und LaiInnen, der Einfluss von Religionen auf Lebens- und Jahresrhythmus, religiöse Sondergruppierungen (zum Beispiel die Karäer oder Lippowaner) oder die Aufgaben von gläubigen Männern wie Frauen. Auch wird die Verstrickung zwischen Religionen und Politik angesprochen, vor allem was die Nationalismen in der Bevölkerung angeht. Jedoch liegt das Hauptaugenmerk eindeutig auf der privaten Lebensführung, so wird etwa oft auf die Volksfrömmigkeit hingewiesen, die sich durchaus weit von der «richtigen» Religion entfernen konnte, speziell was Aberglauben und Rituale betrifft.

Ein positiver Aspekt, der schon beim ersten Durchblättern ins Auge sticht, ist das Verwenden von zahlreichen Karten. So wird das gesamte Werk mit einer Überblickskarte über die Gebiete der österreichischen Monarchie und ihrer Mehrheitsreligionen in farblicher Kennzeichnung im Jahre 1910 eingeleitet. Darüber hinaus finden sich acht weitere Karten, in denen die einzelnen Konfessionen farblich schattiert nach ihrem prozentuellen Vorkommen eingezeichnet sind. Das Kartenmaterial erleichtert die lokale Verortung und zeigt gut Verbreitungsgebiete oder «Inseln» verschiedener Religionen. Auch vier Tabellen werden vom Autor präsentiert. Doch nicht nur diese zwei Aspekte bringen Abwechslung in die Gestaltung des Buches. Auffallend viele Fotografien sind zu finden, die den Anspruch des Autors, alle Lebensbereiche der Bevölkerung zu erfassen, widerspiegeln. Von den marschierenden katholischen Studenten (145) über eine 8-köpfige Huzulenfamilie vor ihrer Holzkirche (80) bis hin zur bosnischen Muslima in einer Art Burka (212) sind zahlreiche Beispiele aus der Frühzeit der Fotografie abgedruckt. Bemerkenswert ist, dass nicht, wie man denken könnte, nur besondere Momente, wie ein Besuch des Monarchen selbst (etwa 219), festgehalten wurden, sondern sich auch zahlreiche Aufnahmen des «normalen Lebens» finden, wie etwa eine einfache Bauernfamilie in ihrer Stube (82). Unbedingt zu erwähnen ist, dass die Fotografien nicht nur mit einer kurzen Quellenangabe versehen unter den Text gestreut sind, sondern dass zusätzlich zu den Bildunterschriften auch mehrzeilige Erklärungen gebracht werden, die die Fotografien in einen grösseren Kontext stellen, den Fliesstext zusammenfassen oder auch Zusatzinformationen enthalten.

Zusätzlich zu diesen fast 60 Schwarzweiss-Fotografien werden auch farbige Abbildungen von Fotografien und Gemälden gebracht, etwa von Albin Egger-Lienz.

Positiv anzumerken ist, dass der Autor sich sehr bemüht, auf alle Gruppen der Gesellschaft einzugehen. Dabei ist natürlich zu beachten, dass es schwierig sein kann, für alle Gruppen auch Quellen zu finden. Klieber beachtet auch den Gender-Aspekt, wenn es um die praktische Ausführung der Religionen geht. So beschreibt er zum Beispiel die (womöglich nicht) vorhandenen Möglichkeiten für Christinnen, in ein Nonnenkloster gehen zu können (d.h. eine Alternative zu einer Verheiratung zu haben), die fast Null betragende Alphabetisierungsrate von muslimischen Bosnierinnen oder die gesellschaftlichen Pflichten von Priestergattinnen. Die männliche Seite der Religionsausübung wird weiters von ihm nicht als das Normale gezeichnet. Das lässt darüber hinwegsehen, dass er keine geschlechtergerechte Sprache verwendet.

Leider merkt man dem Werk an, dass Klieber, wie in der Einleitung selbst angemerkt, von vorhandenen Forschungen abhängig ist. So erwartet man sich zum Beispiel einen tiefergehenden Blick in den muslimischen Teil der Monarchie, vor allem angesichts von Berichten über ein Moscheebauprojekt im Wien der 1910er Jahre, was heute aktueller nicht sein könnte. Enttäuschend ist, dass der Autor dieser zweiten Dissertation die Zusammenführung der einzelnen Betrachtungen mit nur vier Seiten zu knapp hält. Etwas ratlos lässt die letzte Seite den/die LeserIn zurück, beginnt hier Klieber nämlich das interessante Thema zwischen den verschiedenen Konfessionen und dem Habsburgerhaus bzw. dem Kaiser in Wien. Diese Betrachtung würde Sinn machen, da sie in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder in einer Randbemerkung angesprochen wurde, doch endet der Autor hier abrupt.

Unverständlicherweise prolongiert Klieber antisemitische Vorurteile, die in der Propaganda der Nationalsozialisten hoch gehalten wurden: «Wenn das Familienoberhaupt sich tagein tagaus [...] seiner vornehmsten Pflicht, dem ‹Lernen› widmete (=Talmud- und Bibel-Studium). Mitunter eine gute Tarnung für Arbeitsscheu [sic!]: [...]» (30) und «Umgekehrt konnten die in den orthodoxen Jeschiwot zwar körperlich verkümmerten [!], aber im Auswendiglernen und Deuten von Texten bestens Trainierten [...]» (41).

Es kann rückblickend behauptet werden, dass Kliebers Fragestellung nach der Intensität und der Form des Faktors «Religion» für das Leben der BewohnerInnen der Habsburgermonarchie (20) durchaus befriedigend beantwortet wird, wenn dieses Werk als ein Einstiegswerk in die Thematik als solches bzw. in andere Religionen dieser Zeit und dieses Raumes gesehen wird. Das mühelos zu lesende Buch setzt kein Spezialwissen über eine der Religionen voraus, was zusätzlich zur Gestaltung mittels Karten und Fotografien ein abgerundetes Werk ergibt, das nichts verspricht, was es nicht halten kann.

Zitierweise:
Rebecca Loder: Rezension zu: Rupert Klieber (Hg.), Jüdische – christliche – muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie 1848–1918, Wien, Böhlau, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 581-582.

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